Erkenntnisse eines Durchreisenden...

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Mit der durchschnittlichen Kombinationsgabe eines Durchreisenden, ja lieber Leser, liebe Leserin, auch Sie gehören zu dieser (sagen wir einmal) Gattung der Durchreisenden, auch wenn sie es bis dato noch nicht gewusst und so empfunden haben sollten. Bei den nachfolgenden Erkenntnissen geht es natürlich und in erster Linie um meine eigenen als, lassen Sie mich diesen Ausdruck letztmalig h i e r benutzen: als D U R C H R E I S E N D E R !
Bevorzugt reise ich aus eigener (Muskel) Kraft, per pedes oder auf dem Velo, wie die Schweizer sagen würden. Dadurch erhalte ich mir meine Bodenhaftung, neige ich doch dazu ab und an geistig abzuheben – man muss mir das nicht verzeihen, es ist unverzeihlich und bedarf nur meiner eigenen Nachsicht und Vergebung! Ich habe mir also irgendwann vergeben, amor fati, und angefangen meine Reise anders zu empfinden – d. h. weniger tragisch! Humor ist dabei ein gutes Überlebensmittel und passt meist in jeden besseren Rucksack. Tage, an denen Sie selbst nicht über sich lachen konnten, waren schlechte Tage und die wünsche ich nur meinen Feinden! Zwar sagte einst ein Geistesbruder zu mir: Liebe Deine Feinde! - aber dazu bin ich zu nachtragend und rachsüchtig. Jan-Philipp Reemtsma sprach in einem Eröffnungsvortrag, dem ich in Hamburg beiwohnte, von der typischen Opferrolle, wenn man auf sein Recht zur Rache verzichtet. Rache ist etwas gesundes und wenn man sie kalt genießen kann, ist sie köstlich. Lassen Sie sich Zeit bei ihrer Rache und vergessen Sie nichts, führen Sie Buch darüber und seien Sie kreaktiv und gerecht bei ihrer cleveren Revange!

Ich schweife ab, leide ich doch seit Jahrzehnten (damals gab es diesen Begriff noch nicht) an ADHS! Im Lauf der Jahrzehnte gibt sich das etwas und ich bin heute in der Lage u. a. längere Texte zu schreiben – zu zum Redigieren fehlt mir meist die Ausdauer & Lust! Diese Text hier ist eine Art Patchwork und es kommen hier allerhand Themen und Stimmen zu Wort, die jedoch am Ende einen Erkenntnisgewinn bringen sollten (können?), wie dem auch sei, selbst ADHS-Mitreisende könnten diesbezüglich auf der Gewinnerseite sein – indes: Ich verspreche hier nichts!

Wichtig ist die persönliche Ansprache auch gegenüber einem Unbekannten, was es schwierig und gleichzeitig leicht macht! Ich kenne weder Ihr Geschlecht, Aussehen oder Gemütslage, wobei ich die letztere wohl u. U. beeinflussen kann. Jedenfalls kann Unkenntnis auch zur Unbefangenheit führen, was mitunter auf Gegenseitigkeit beruht: Schön das Sie da oder dada sind und bereit hier weiterzulesen! Momentan befinde ich mich in meiner „Geworfenheit“ (frei nach Heidegger) im Abklingbecken der Liebe. Anfangs ist das Wasser eiskalt und dann gewöhnt man sich daran und blickt klar. Solche Erkenntnisse sind dem Schreibprozess sehr dienlich und auch sie gehören zu den Nutznießern heute. Wir befinden uns immer noch im erotischen Vorspiel und werden uns erst hinterher dem Ernst des Lebens zuwenden – so leicht wie möglich!

An einem Augusttag

Der August ging langsam seinem Ende entgegen. Ich kam gerade von einer Stippvisite aus Hamburg zurück ins Oderbruch, wo mein Freund Rod vor einigen Jahren günstig bei einer Zwangsversteigerung ein Wohnhaus mit Garten und Nebengebäuden in einem kleinen Dorf erwarb. Das Haus hat 120 qm Wohnfläche und das Grundstück ist über 2000 qm groß und leicht verwildert, alles das hat ihn weniger gekostet als sein jetziger Gebrauchtwagen Marke erVOLKSWAGEN! Glück muss der Mensch haben! In Rod´s Sommerhaus wollte ich noch etwas verweilen und mich dem Schreiben widmen, gute Gespräche mit meinem Freund führen und u. a. Fahrrad auf und am Oderdeich fahren. Meine Gespräche mit Rod kamen häufig auf ein zentrales Thema: Die Vergänglichkeit. Am Rande des Oderbruchs unweit von Rod´s Haus gibt es das „Theater am Rand“, dessen Gründer und Betreiber ich kenne: Tobias Morgenstern. Im Herbstprogramm dieses skurrilen Randlagentheaters - in Zollbrücke an der Oder stehen nur eine Handvoll Häuser und das Theater Marke Eigenbau! Für den 31. Oktober 2015 steht dieser Veranstaltungspunkt im Programm:
ENDE GELÄNDE

Der Tod mag unausweichlich und grausam sein, aber manchmal ist er einfach saukomisch. Für alle Freunde des Makabren bietet dieser Abend Endzeitdialoge, Grabinschriften, absonderliche Abschiedssprüche, wunderliche letzte Wünsche, stilvolle Abgänge der Menschheitsgeschichte. Nicht zu vergessen die irrtümlichen Tode und vermasselten Nachrufe. Alles im Namen des Absurden (Allah, Dada?). Hart gekontert mit den mit den von todkranken Zeitgenossen geschriebenen Nachrufen auf sich selbst: „Dieser Mensch war ich.“ Herausgegeben von Christiane zu Salms. Eine finale Inszenierung mit Hendrikje Fritz, Holger Deamgen, Thomas Rühmann und dem Geiger Thomas Prokein.

Schade das an jenem Oktobertag nicht mehr hier oder in der Gegend sein werde, auch am 21. November 2015 nicht, wenn diese Vorstellung wiederholt wird. Ich habe aufgehört lang in die Zukunft zu planen und wünschte überhaupt nie und nichts mehr planen zu müssen. Nur der Augenblick zählt. Jetzt lag plötzlich der Herbst in der Luft, ein Vorbote der Vergänglichkeit, als ich am 29. August 2015 morgens im Tagebuch von Ingrid Bachér, „Sieh da, das Alter“, unter ihrem Eintrag vom 29. August 2001 dies hier las:

„Es hat etwas Komisches, wenn ich meine, noch attraktiv, gar begehrenswert zu sein. Das geschieht zuweilen, wenn ich nachlässig bin, wenn ich gut geschlafen habe und einen erfreulichen Anruf bekam oder mich auch sonst in einer optimistischen Stimmung befinde. Wenn ich glaube, die eine Novelle schreiben zu können, die ich nie schrieb (…), überhaupt, wenn die illusionistischen Wünsche wie reale Möglichkeiten erscheinen.

Zwanzig Jahre jünger denken, nehme ich mir vor. Dieses alte Rezept: sich immer ein, zwei Jahrzehnte jünger zu denken, sich so zu bewegen, zu sprechen, zu lieben. Die Vorstellung der Schwäche ist ja nicht nur eine, die der Körper mir signalisiert, sondern auch eine des Kopfes. (…)
Ich vergesse nicht die Schilderung einer Frau, die an einer Expedition in Afrika teilnahm und darüber schrieb, wie leicht die Eingeborenen das schwere Gepäck der Expedition kilometerweit trugen, scherzend, fast spielerisch. Während die europäischen Teilnehmer, auch wenn sie nur leichtes Gepäck tragen mussten, überzeugt waren, sie könnten es nicht, schon gar nicht über die weite Distanz, die vor ihnen lag. So wurde das Gepäck tatsächlich unerträglich schwer.“

Ich gebe dies hier so wieder, spielte es doch an meinem 29. August 2015 eine Rolle, beeinflusste es doch meine Gestimmtheit am Vormittag jenes Tages, von dem hier die Rede ist. Alter und Endlichkeit sind wie ein paar Schuhe, die zwar unterschiedlich sind und doch zusammen gehören. Apropos Schuhe, ich erinnere mich an die Aussage einer anderen Schriftstellerin, deren Name mir leider entfallen ist, die sagte, sie hätte an ihrem 60. Geburtstag all ihre hochhackigen Schuhe im nächsten Kleidercontainer entsorgt und sich gesagt: Die brauchst du jetzt nicht mehr! Damit trat sie schlagartig ins Alter ein, was bei der zuvor zitierten Ingrid Bachér gut ein Jahrzehnt länger dauerte. Auf der einen Seite hat das Altern etwas mit unserem Bewusstsein zu tun, auf der anderen Seite natürlich mit unserem tatsächlichen körperlichen Altern und den damit einher gehenden Verschleisserscheinungen. In Würde zu altern ist eine Kunst, die in heutiger Zeit in den Industriestaaten nicht hoch im Kurs zu stehen scheint, sieht man doch allerorten jene „Best ager“, jene „jugendlichen“ Senioren in ihren farbenfrohen Outfits, wie man heute sagt, die auf teuren Elektrofahrrädern oder mittels umfunktionierter Skistöcke durch die Landschaft radeln und wandern. Warum nicht, sollte ich mir sagen, aber etwas stört mich an diesen Alten – vielleicht, weil sie so tun als wären sie nicht alt?! Oder sollte ich mich besser an die Expeditions-Schilderung in Afrika halten, die ich zuvor zitierte? Mache ich es mir durch meine Auseinandersetzung mit dem Alter schwerer als ich müsste? Ich erinnere mich eben an den Satz, dass die Hummel nach den Gesetzen der Schwerkraft an sich unfähig ist zu fliegen, dies aber selbst nicht weiß und deshalb trotzdem fliegt...

Zurück zum 29. August 2015, an dem ich noch den Tagebucheintrag Frau Bachér´s vom 30. August 2001 las, in dem sie vom Tod ihres Vaters berichtet:
„Es wird behauptet, für Schriftsteller sei die Kindheit ein Brunnen, aus dem sie schöpfen. Ich hatte meinen verschlossen, ohne dass es mir bewusst geworden war. Jetzt erst weiß ist, warum ich später oft etwas nicht wahrnehmen wollte, was mich verletzte, mich nicht dazu äußerte. Ich hatte gelernt, den Schmerz zu übergehen. Immer gab es etwas Wichtigeres, als ihm nachzugeben.

Wir dehnen uns aus und entwickeln uns, selbst wenn es im körperlichen wie ein Verfall aussieht. Wir bewegen uns wieder zum frühesten Stadium zurück. Mein Vater nahm in den letzten Tagen, in denen er lebte, eindeutig diesen Weg. Er starb neunzigjährig in Salzburg in einem Haus, das am Spiegelweiher in Leopoldskron stand. Tagelang verließen wir nicht das Haus und bereiteten uns auf sein Ende vor, er und auch ich, soweit ich es fassen konnte und mich nicht immer wieder ablenkte, um es zu ertragen, was nun auf ihn zukam. Noch immer stand er zu seinen gewohnten Zeiten auf, zog sich selber an, auch wenn dies lange dauerte, und setzte sich zu den Mahlzeiten an den Tisch. Dort versammelten sich oft Freunde und Verwandte, um noch einmal in seiner Nähe zu sein. Er aß kaum etwas, schwieg viel, achtete aber auf unsere Gespräche. Wenn er etwas sagte, dann merkten wir, dass er unseren Reden gefolgt war, so abschweifend ins Alltägliche wir sie auch geführt hatten. Am vorletzten Tag seines Lebens blieb er nach dem Essen im Arbeitszimmer auf seinem Sessel sitzen, wollte sich nicht hinlegen, wie er es sonst tat, und sah durch die Terrassentür in den Garten. Ich las ihm Walt Whitmans Gesänge aus den Grashalmen vor, die er geliebt hatte, weil sie so hymnisch vom Leben sprachen. Es kam die Stunde, in der es ihm schwer fiel zu sprechen. Er wollte mir etwas mitteilen, aber seine Stimme gehorchte ihm nur mühsam und ich sagte ihm, er möge sich schonen, denn wir wüssten ja voneinander. So erfuhr ich nicht, was er noch hatte sagen wollen. Später griff er nach meinem Arm, um aufzustehen. Als wir den Raum verließen, wurde mir das Herz schwer, weil ich wusste, dass er zum letzten Mal hier gesessen hatte. Und auch er wusste dies. Er ging die Treppe aus dem Wohnraum zu seinem Schlafzimmer hoch und ich stützte ihn, während er sich auf der anderen Seite am Geländer festhielt. Er blieb stehen und sah zurück in die Räume, die nun verlassen waren und die er sich in vielen Jahrzehnten so geschaffen hatte. Das Haus war bedeutsam für ihn gewesen, eine Lebensform, wie er sagte. Dann ging er weiter, unsicher wie ein kleines Kind einen Fuß dem anderen nachsetzend, als müsse er ausprobieren, wie es möglich sei, zu gehen. Und dies war das letzte Mal, dass er ging. Er setzte sich auf die Kante des Bettes und ich wusch ihm die Füße, die stark angeschwollen waren. Das war die einzige Deformation seines sonst noch immer schönen schmalen Körpers. Darauf trank er ein letztes Mal aus einem Glas Kaffee in winzigen, schlürfenden Schlucken, und legte sich hin, um sich nie wieder aufzurichten. Gegen Abend bekam er etwas von der Babynahrung, die der Arzt mitgebracht hatte, in Wasser aufgelöstes Pulver, aus einer Schnabeltasse. Ich legte ihm eine Windel an und bezog seine Decke und sein Kopfkissen neu. Er bemerkte es und lächelte mir zu. Danach blieb sein Gesicht ernst und in sich gekehrt, konzentriert auf etwas Fremdes. In der Nacht deutete er mit einer Bewegung an, dass der Schlafanzug ihm lästig wäre. Ich zog ihn aus, so dass er von jetzt an vollständig nackt war. Ich legte mich auf eine Matratze neben sein Bett, und er griff mit seiner Hand nach meiner und hielt sie lange. Als mein Bruder hereinkam und sagte, wir sollten den Arzt benachrichtigen, sagte er laut und deutlich „Kein Arzt“. Wir befeuchteten seine Lippen mit einem nassen Tuch. Einige Male saugte er daran mit geschlossenen Augen. Gegen Morgen legte er sich auf die Seite und zog die Beine an, nahm die Haltung ein wie ehemals im Mutterleib. Er sprach nun nichts Verständliches mehr. Noch einmal griff seine Hand nach meiner, dann zog er sie zurück, nah an seinen Körper. Sein Atem ging jetzt schwerer, während er bewegungslos lag, den Kopf seitlich fest in das Kissen gedrückt. Plötzlich, von einem Augenblick zum anderen, breitete sich Stille aus. Kein Atem war mehr zu hören. Als ich mein Gesicht an Seins legte, bewegte sich sein ganzer Körper ruckhaft und es gab einen Klang, als zerbräche in ihm etwas. Ein leichtes Beben und dann wieder Stille. Ich öffnete das Fenster, damit die Seele leichter ins Jenseits entweichen konnte, kannte nur noch dies Bruchstück eines früher üblichen Zeremoniells. Erinnerte auch das Vaterunser, das ich weinend aufsagte, als könnte es der Tote noch hören. Als die kalte Luft hereinkam, fürchtete ich, sie könne ihm noch schaden. Aber mein Vater war entbunden vom Leben...“

Ich las noch etwas weiter in dem Buch an jenem Augustmorgen am Frühstückstisch, der draußen im Garten stand unter blauem Himmel im Sonnenschein. Was hatte dieser Tag mit dem Tod zu tun und warum sollte ich mir diese schweren Gedanken machen, mich mit diesen schweren Gefühlen belasten, wenn es mich doch jetzt noch nicht betrifft? Oder bekommt dieser Tag eine andere Tiefe durch diese Gedanken und Gefühle? Ja, es war so, er war tiefer, nicht aber leichter zu ertragen – eher das Gegenteil: er machte mich schwermütig! Ich trank noch einen Schluck Kaffee, verabschiedete mich von meinem Freund Rod und stieg auf mein Fahrrad. Bewegung schafft emotionale Erleichterung und sich aus eigener Kraft durch die Landschaft zu bewegen war ein gutes Gefühl! Das brauchte ich jetzt. Trotzdem spürte ich die Vergänglichkeit, den im Anzug befindlichen Herbst, meine eigene im Anzug befindliche Endlichkeit. Ich wollte noch an diesem Samstag ein paar Kleinigkeiten in der nahen Kreisstadt Bad Freienwalde einkaufen. Nachdem ich mein Fahrrad an einen Laternenpfahl angeschlossen hatte ging ich in Richtung eines Schreibwarenladens, wo ich auch Briefmarken bekommen konnte. Auf der Straße davor stand ein Rettungswagen und ich sah einen Menschen auf einer Bahre liegen, der mit einer Decke bedeckt war. Es schauten nur seine Sportschuhe und Hände darunter hervor. Außer dem herumstehenden Rettungspersonal gab es nur einen weiteren Beobachter, einen älteren Mann, den ich fragte ob er den Hergang gesehen hätte. Er verneinte und es war uns beiden klar, dort lag ein soeben verstorbener Mensch. Wenige Minuten darauf erschien ein Leichenwagen eines Bestatters und zwei gesetzte Herren in schwarzen Anzügen stiegen aus, unterhielten sich kurz mit dem Rettungspersonal und holten dann aus ihrem Wagen eine Trage mit integriertem Leichensack. Die Trage stellte sie neben die Trage, auf der der Tote lag und nahmen die Decke von seinem Körper. Die Bestatter trugen Latexhandschuhe und so fassten sie den Toten an den Armen und Beinen um ihn auf die andere Trage zu heben. Das Hemd des Toten war vorher geöffnet worden und ich sah einen leicht übergewichtigen Mann von 50 Jahren mit dunklem Kurzhaarschnitt und einem dunklen, kurz gehaltenen Kinnbart. Ein Toter in kurzen Hosen mit einem Allerweltsgesicht. Trotz aller Tragik sah er in seinen kurzen Hosen und Sportschuhen irgendwie lächerlich aus. Darf man dies im Angesicht des Todes über einen Menschen oder dessen Leiche sagen oder soll ich diese Bemerkung wieder entfernen? Mir fällt in diesem Zusammenhang Hanna Arend ein, die angesichts des Adolf-Eichmann-Prozesses in Jerusalem von der „Banalität des Bösen“ sprach. Hat nicht auch der Mensch im Zusammenhang mit dem Tod etwas lächerliches! Vor einer Stunde ging der frisch Verstorbene noch nichtsahnend in seinen kurzen Hosen in seinen Sportschuhen federnd durchs Leben und jetzt lagen dort nur noch seine körperlichen Überreste, bereit, entsorgt zu werden. Hatte der Tote eine unsterbliche Seele oder wird diese nur in die besseren Modelle des Homo sapiens sapiens eingebaut? Hatte zum Beispiel Hitler oder Stalin eine Seele? Wir wissen es nicht und wollen darüber nicht streiten. Die Bestatter waren gerade dabei den Reißverschluss des Leichensackes zu schließen und den unbekannten Toten auf ihrer Trage zum Leichenwagen zu schaffen. Ich drehte mich um und ging an dem Herrn vorbei, der den Vorgang wie ich beobachtete hatte, und sagte ihm in sein betroffenes Gesicht: „So ist das Leben!“ Er nickte in seiner andauernden Betroffenheit nur zustimmend. Da war er wieder gewesen, der alltägliche, der anonyme Tod. Memento mori, sollte das meine Lektion für den 29. August 2015 sein?

Der Tod und Thanatos – mein „Lebensthema“

Wer miterlebt hat wie abgeschoben und ungeistig heute in der westlichen Welt, natürlich auch in Deutschland, gestorben wird, versteht mich sicher und nicht allein über den Verstand. Der Tod ist mittels des Verstandes nicht wirklich begreifbar und viele scheuen die gefühlsmäßige Auseinandersetzung mit ihm aufgrund seiner unfasslichen Tragweite! Ein Freund von mir hält es gar für besser sich überhaupt nicht mit dem eigenen Tod auseinander zu setzen und ihn einfach „kommen zu lassen“ – damit drückte mein Freund seine Hoffnung aus vielleicht im Schlaf und somit ganz und gar unmerklich aus dem Leben scheiden zu dürfen. Natürlich kann man den Tod auf diese Art und Weise verdrängen, auch würde ich meinem Freund die Gnade eines solchen Endschwindens gönnen, aber der geistige Mensch wird sich in seinem eigenen Entwicklungsprozess mit der allgemeinen und der speziellen Endlichkeit auseinander setzen müssen um dadurch zu wachsen, d. h. geistig erwachsen zu werden.

Der Tod spielt in meinem Leben seit meiner frühen Kindheit eine große Rolle und wurde quasi „mein Lebensthema“. Als ich vielleicht sechs oder sieben Jahre alt war, sah ich auf der Titelseite der Braunschweiger Zeitung ein schwarz-weiß Foto, dass meine kindliche Seele aufwühlte und sich in mein Langzeitgedächtnis einbrannte. Das Foto war auf im Saudi-arabischen Jedda aufgenommen und zeigte eine Enthauptung. Ich hatte mir dieses grob gerasterte s/w Foto sehr genau angesehen und war trotz des empfundenen Schreckens in all seine ersichtlichen Details eingestiegen und die waren für mich beängstigend. Besonders der Gesichtsausdruck des bereits Enthaupteten, dessen Kopf bereits vom Rumpf abgetrennt und sich einige Zentimeter vom blutspritzenden Hals im freien Fall befand. Deutlich sah ich den entsetzten Gesichtsausdruck des Hingerichteten und konnte, wie ich meinte, seinen letzten darin Gedanken lesen: JETZT BIN ICH TOT! Jahrzehntelang spielten dann Enthauptungen in meiner Vorstellungswelt keine Rolle mehr. Plötzlich aber tauchten sie wieder wie aus dem Nichts auf: Enthauptungen! „ISIS“ oder neuerdings der „IS“ bediente sich dieser altmodischen Tötungsform, die vielleicht nicht so „sauber“ wie jene hoch modernen Killerdrohnen war, dafür aber Kollateralschäden vermied – wie man abendländischerseits den Tod von Unschuldigen verharmlosend umschreibt! Jetzt fand ich in dem Buch „Die Glut“ des ungarischen Schriftstellers Sándor Márai eine Stelle, die diese Art des Tötens beschreibt und in gewisser Weise behauptet zu verstehen:

 „Dann wurde ein Lamm gebracht, ein weißes Lamm, der Hausherr nahm sein Messer und stach es ab, mit einer Bewegung, die ich nicht vergessen kann... Eine solche Bewegung lässt sich nicht lernen, es ist eine orientalische Bewegung, aus der Zeit, als das Töten noch eine symbolische und religiöse Bedeutung hatte, als es noch etwas Wesentliches bedeutete, nämlich das Opfer. So erhob Abraham das Messer für Isaak, als er ihn opfern wollte, mit dieser Bewegung wurden in den alten Tempeln die Opfer vor dem Altar, vor dem Götzen oder dem Bildnis der Gottheit getötet, und mit dieser Bewegung wurde Johannis dem Täufer der Kopf abgeschlagen... Eine uralte Bewegung. Im Orient ist sie jedem Menschen angeboren. Vielleicht begann mit dieser Bewegung das Menschsein, nach dem Zwischenzustand zwischen Mensch und Tier... Nach gängigem Wissen begann das Menschsein damit, dass man seinen Daumen abwinkeln und also die Waffen oder das Werkzeug packen konnte. Aber vielleicht hatte es mit der Seele und nicht mit dem Daumen zu tun; vielleicht, ich weiß es nicht... Der arabische Herr stach das Lamm ab, und in diesem Augenblick war dieser ältere Mann in seinem weißen Burnus, auf den kein einziger Blutstropfen fiel, wie ein orientalischer Hohepriester, der das Opfer vollzieht. Seine Augen leuchteten, einen Moment lang war er verjüngt, und ringsum herrschte Totenstille. Sie saßen um das Feuer, beobachteten die Bewegung des Tötens, das Blitzen des Messers, das Zucken des Lammes, das herausschießende Blut, und allen leuchteten die Augen. Und da habe ich begriffen, dass diese Leute dem Akt des Tötens noch ganz nahe sind, für sie ist Blut ein vertrauter Stoff, und auch das Blitzen des Messers ist etwas Natürliches, wie das Lächeln einer Frau, wie der Regen...“

Schnitt

Vor einigen Jahrzehnten schaffte ich es mir in Kathmandu (Nepal) ein Visum für China zu beschaffen um damit nach Tibet, auf das Dach der Welt, reisen zu können. Hier, viele tausend Meter hoch, war die Luft dünn und wunderschöne Wolkenskulpturen segelten am intensiv-blauen Himmel. Dort konnte ich absolute Einsamkeit und Abgeschiedenheit finden, dort las ich in den Bergen sitzend im Tibetanischen Totenbuch, jene Übersetzung des Bardo Thödol ins Deutsche, die 1942 mit einem Geleitwort von C. G. Jung im Rascher Verlag Zürich erschienen war. Es war der rechte Platz um dieses Heilige Buch der tibetanischen Buddhisten zu lesen und ich konnte damals noch nicht wissen das mir ihr Oberhaupt, der 14. Dalai Lama Jahrzehnte später ein persönliches Lächeln schenken würde – vielleicht hatte er beim Blick in meine Augen etwas gesehen...?!

Der berühmte Psychoanalytiker Carl Gustav Jung schreibt im Geleitwort des Bardo Thödol dies:

„Meinem einleitenden Kommentar möchte ich eine kurze Übersicht über den Text vorausschicken. -
Das Bardo Thödol ist ein Buch der Belehrung des eben Gestorbenen. Es soll ihm als Führer durch die Zeit der Bardo-Existenz – ein Zwischenzustand von symbolischen 49 Tagen, Dauer zwischen Tod und Wiedergeburt – dienen, ähnlich etwa wie das ägyptischen Totenbuch. Der Text zerfällt in drei Teile. Der erste Teil, genannt Tschikkai-Bardo, schildert die seelischen Ereignisse im Moment des Todes. Der zweite Teil, der sog. Tschönyid-Bardo beschäftigt sich mit dem nach erfolgtem, devinitivem Tod eintretenden Traumzustand, den sog. karmischen Illusionen. Der dritte Teil, genannt Sidpa-Bardo, betrifft das Einsetzen des Geburtstriebes und der pränatalen Ereignisse. Das Charakteristische ist, dass die höchste Einsicht und Erleuchtung und damit die größte Erlösungsmöglichkeit unmittelbar im Prozess des Sterbens eintritt. Bald danach beginnen die „Illusionen“, welche schließlich zur Wiederverkörperung führen, wobei die erleuchtenden Lichter immer trüber und mannigfaltiger werden, und die Visionen an Schreckhaftigkeit zunehmen. Dieser Abschnitt schildert die Entfremdung des Bewusstseins von der erlösenden Wahrheit und seine Wiederannäherung an die physische Existenz. Die Belehrung hat den Zweck, den Abgeschiedenen auf jeder Stufe der Verblendung und Verstrickung auf die jeweils vorhandene Erlösungsmöglichkeit aufmerksam zu machen und ihn über die Natur seiner Visionen aufzuklären. Die Bardo-Texte werden vom Lama in der Nähe der Leiche gelesen.“

So ein Seelen-Befreiungs-Ritus hat etwas befreiendes, jedenfalls für die Hinterbliebenen des Toten. Ob der Tote selbst samt seiner unsterblichen Seele etwas von diesem Ritus hat? Niemand kann diese Frage beantworten, auch die Lamas und Priester aller Nationen nicht, die mit ihren Jenseitsgeschichten & -Riten ihr Brot verdienen, wissen wir doch nicht einmal ob es eine Seele, geschweige denn eine „Unsterbliche Seele“ gibt?! Wer glaubt oder glauben kann, hat es hier sicher einfacher als die modernen Ungläubigen in den reichen Industrieländern, denen der Tod (ihr eigener) deshalb ganz besonders großes Kopfzerbrechen bereitet. Er passt nicht in ihre Lebensplanung und auch das Altern ist etwas, was abgeschafft werden müsste. Verkauft uns doch schon heute die Werbung die Illusion der ewigen Jugend und Schönheit! Mich erinnert diese Illusion an die unbeschwerte Kindheit und Jugend jenes Prinz Siddhartha, der im Palastbezirk nur Jugend und Schönheit sah und erst nach seinem ersten Ausritt als junger Mann mit Alter, Gebrechen und Tod konfrontiert wurde – womit sein spezifisch menschliches Bewusstsein erwachte! Dieses Bewusstsein zeichnet uns als Menschen aus, kein Tier hat ein solches Bewusstsein und weiß um seine Endlichkeit. Es lebt einzig im Hier und Jetzt ohne Vergangenheit und Zukunft. Diese spezifisch tierische Seins-Form ist die unbeschwerte, kein Bewusstsein belastet sie und macht sie deshalb leicht und aus meiner Sicht erstrebenswert. Einzig Kinder vermögen so leicht und unbeschwert zu sein, wenn man sie lässt. Leider stopfen wir diese Kinder viel zu früh voll mit all dem Wissen, das sie für ein erfolgreiches Leben in unseren denaturierten Industriegesellschaften angeblich brauchen. Ich habe da meine grundlegenden Zweifel und bin der Meinung: Der Mensch ist ein Fehlschlag der Evolution. Vor zirka 40 Jahren erschien in der deutschen Ausgabe des PLAYBOY ein Artikel aus der Feder des Wissenschaftsjournalisten und Buchautoren Theo Löbsack mit dem Titel: „Ein Riss im Hirn – der Mensch als Fehlschlag der Natur.“ Theo Löbsack bewies in dem Artikel anhand der Entwicklungsgeschichte des Menschen schlüssig diese These und ich war damals sehr stolz, als in der nächsten Ausgabe des PLAYBOY mein Leserbrief zu Löbsacks Artikel erschien, in dem ich mich beipflichtend der traurigen These Löbsack´s anschloss. Zwanzig Jahre später sollte ich mit Theo Löbsack korrespondieren, leider ist er auch schon viele Jahre tot. Seine Bücher haben jedoch nichts an ihrer Aktualität eingebüßt und ich kann sie hier nur wärmstens empfehlen – populärwissenschaftlich und unterhaltsam geschrieben! Kommen wir zurück zum menschlichen Bewusstsein, vom Wissen um unsere Sterblichkeit. Ohne dieses spezifisch menschliche Bewusstsein wäre nie eine Religion entstanden, beschäftigen sich doch alle Religionen mit unserer Sterblichkeit und versprechen uns etwas über den Tod hinaus. Dieses Versprechen dient der Beschwichtigung unserer Angst vor dem Tod, was auch ein gläubiger Christ, Muslim, Jude oder Hindu-ist etc. einsehen kann, wenn er nicht zu fanatisch „glaubt“. Der Glaube an sich ist ein Willensakt, glaubt der Mensch doch nur, was er glauben will! Je stärker er glaubt, desto stärker sein „Wille“ zu glauben – was mir gleichzeitig den Grad seiner Angst zeigt, die sich hinter diesem unfreien Wollen verbirgt! Vielleicht verändert ein solches Wollen tatsächlich die Realität des so fanatisch Glaubenden, indes kann es nichts an der Tatsache unserer Endlichkeit ändern. Wer aber mit der Hoffnung an ein Leben nach dem Tod (=Leben) lebt und stirbt, lebt und stirbt leichter! So gesehen wäre es an der Zeit für mich an das ewige Leben zu glauben, was ich gern täte, wäre der Mensch in der Lage seine eigene Destruktivität zu überwinden und ein Segen für die Schöpfung und in erster Linie auch für seine Mitmenschen zu sein. Leider ist dies nicht zu sehen und kürzlich fragte mich eine Blogfreundin in einem Kommentar was schlimmer wäre, wenn der Mensch ausstürbe oder die Biene...?!

Well, just think about it...

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